Jazz & Church?

Dr. Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD / Culture Commissioner of the Evangelical Church Germany (EKD)

claussen_jh150.jpg (English Text below)

Was „Jazz“ ist, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es das überhaupt gibt. Natürlich ist mir bekannt, dass unter diesem Terminus Musik beworben und verkauft wird.

Ich bin ja schließlich ein recht verlässlicher Kunde und regelmäßiger Hörer. Aber je mehr ich die unter dieser Sparte versammelte Musik höre, umso unsicherer werde ich. Nun ist mir schon bewusst, dass es einige gängige Definitionen gibt. Doch was mich an dieser Musik interessiert, sind die Spannungen, die sie durchziehen, aus denen sie lebt und die sich auflösen würden, wenn man sie begrifflich festlegen würde. Da ist zum Beispiel die Spannung zwischen dem Bezug auf klassische Lieder einerseits und deren freier Neukomposition im Akt des Spielens andererseits. Und da ist die Spannung zwischen den vielfältigen Tönen und Klängen, die erzeugt werden, einerseits und einer seltsam kostbaren Erfahrung von Stille, die dabei eröffnet werden kann, andererseits. Was also ist „Jazz“? Ich weiß es nicht.

Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich dasselbe vom „Gottesdienst“ sagen. Ich weiß nicht, was das ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es das überhaupt gibt. Natürlich ist mir bekannt, dass unter diesem Terminus Veranstaltungen durchgeführt und beworben werden. Ich bin ja schließlich ein recht verlässlicher Besucher und sogar selbst ein regelmäßiger Akteur. Aber je mehr ich die unter diesem Begriff versammelten Veranstaltungen besuche oder durchführe, umso unsicherer werde ich. Die üblichen theologischen Erklärungen helfen mir kaum weiter. Denn was mich an diesen Versammlungen interessiert, sind die Spannungen, die sie durchziehen, aus denen sie leben und die sich auflösen würden, wenn man sie begrifflich festlegen würde. Da ist zum Beispiel die Spannung zwischen dem Bezug auf klassische Texte und traditionelle Riten einerseits und deren freier Interpretation im Moment ihrer Inszenierung andererseits. Und da ist die Spannung zwischen den vielen Wörtern, die gesagt werden, einerseits und der seltenen, aber umso kostbareren Erfahrung von Stille, die manchmal von ihnen eröffnet wird, andererseits. Was also ist „Gottesdienst“? Ich weiß es nicht.

Doch ahne ich, dass es zwischen beidem eine Wahlverwandtschaft geben könnte. Natürlich, die „Jazz“ genannte Musik lebt von der Improvisation, die „Gottesdienst“ genannte Versammlung dagegen von der Inszenierung, weshalb erstere emotionaler, freier, entfesselter wirkt, letztere dagegen gesteuerter, geklärter, allgemeiner. Den-noch interessieren mich Spurenelemente einer Wahlverwandtschaft die sich aber nur entfaltet, wenn Freiheit herrscht, wenig festgezurrt wird, das eine nicht für das andere benutzt wird, sondern ein freies Spiel beginnt.

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What “jazz” is. I am not even sure that it exists. Of course, it is known to me that under this term music is advertised and sold.


After all, I am a fairly reliable customer and regular listener. But the more I listen to the music gathered under this musical genre, the more uncertain I become. Now, I am aware that there are some common definitions. But what interests me about this music are the inherent tensions from which it lives and which would dissolve if they were determined conceptually. There is, for example, the tension between the reference to classic jazz standards on one hand and their free re-imagination in performance on the other. And there is the tension between the various sounds and tones that are generated on one hand, and a strangely precious experience of silence that opens up on the other. So what is “jazz”? I do not know.


But when I am honest, I must say the same about "worship". I do not know what that is. I'm not even sure if it exists. Of course I am aware of the fact that events are organized and promoted under this term. After all, I am a fairly reliable visitor and even a regular actor. But the more I visit or catalogue the events gathered under this term, the more uncertain I become. The usual theological explanations hardly help me. For what interests me in these meetings are the inherent tensions from which they live and which would dissolve if they were determined conceptually. There is, for example, the tension between the reference to classical texts and traditional rites on one hand and their free interpretation at the moment of their execution on the other. And there is the tension between the many words that are said on one hand, and the rare but all the more precious experiences of silence, which sometimes arise from them on the other. So what is "worship"? I do not know.


But I suspect that there might be a choice between both. Of course, the music called "jazz" lives from improvisation; the assembly called "worship" from enactment, which is why the former is more emotional, freer, less inhibited, and the latter more controlled, more universal, and with greater clarity. However, I am still interested in trace elements of an electoral relationship, which only unfolds when freedom prevails and is not restricted, when one is not utilized by the other, but a free interplay begins.