Musik zwischen Himmel und Erde

...wie Jazz in die Kirche ging. von Uwe Steinmetz ©2016

Die Verbindung von Spiritualität und Jazz ist im Vergleich zur Klassischen (Neuen) Musik und der heutigen Popularmusik deutlich ausgeprägter, nicht nur im Blick auf die Wurzeln des Jazz im Spiritual und Gospel. Einige der berühmtesten Jazzwerke sind weltweite Bestseller wie die „Sacred Concerts“ von Duke Ellington und „A Love Supreme“ von John Coltrane mit genuin spirituellem bzw. liturgischem Hintergrund. Auch im zeitgenössischem Jazz finden sich etliche renommierte Musiker, die bewusst ihre Musik als Ausdruck ihrer christlichen Spiritualität begreifen - u.a. Kurt Elling, Brian Blade, Tord Gustavsen, Take Six und Gregory Porter. Zudem war und ist Jazz von Beginn an eine Musik, die Impulse aus E-Musik und U-Musik synergetisch und emanzipativ verschmilzt - und so in die Genres von Popmusik und komponierter Avantgarde ausstrahlt. Dies reflektieren auch mittlerweile die Ausbildungsstudien-gänge in den deutschen Musikhochschulen, in denen Jazz gegenüber der Klassischen Ausbildung an Bedeutung gewinnt.

LITURGICAL JAZZ UND SPIRITUAL JAZZ - JAZZ IN UND AUS KIRCHEN

Jazz, wie alle wesentlichen Stile der amerikanischen und westlichen Popularmu-sik, lebt bis heute von der Verschmelzung des kulturell-musikalischen Erbes der seit dem 16. Jh. überwiegend aus Westafrika stammenden Sklaven mit der europäisch geprägten Musik und Religion Nordamerikas. Das Ende des Bürgerkrieges 1865 und die damit einhergehende Abschaffung der Sklaverei gaben den Anstoß zur Entwicklung jener Musikstile die wir heute Jazz und Blues nennen. Mit der Etablierung der ersten protestantischen Kirchen mit afroamerikanischer Prägung entstand Gospel als eigenes Genre der Kirchenmusik, während die Spirituals schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts in konzertanter Form internationale Berühmtheit erlangten, z.B. mit den Fisk Jubilee Singers oder dem Sänger Paul Robeson.

Viele der frühen Komponisten des Jazz arbeiteten sowohl als Kirchenmusiker als auch in Nachtclubs und Theatern. Dazu zählen zwei Musiker, die zu den wichtigsten Protagonisten populärer Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA zählen: Thomas A. Dorsey, unter dem Namen „Texas Tommy“ als Bluesmusiker erfolgreich und zugleich der Vater der modernen Gospelmusik, und Duke Ellington, einer der bedeutendsten Komponisten des Jazz.

Ob Musiker nun in Gottesdiensten oder in Clubs spielten, die Kirchen als Ort der kulturellen Begegnung brachte sie zusammen: Gospel und Tanzmusik gehörte hier zur musikalischen Grundversorgung. Hinzu kam, dass aufgrund der hohen Temperaturen in den Südstaaten Fenster und Türen der Gotteshäuser häufig offen standen. So wurde Gospelmusik unüberhörbar und gehörte zum festen Bestandteil des lokalen Klangraums und wie der Blues zum Grundrepertoire professioneller Jazzmusiker. Der amerika-nische Trompeter Wynton Marsalis prägte den Satz: „Jazz ist eine Musik zwischen Nachtclub und Himmel – wenn Du eins der beiden entfernst, ist es kein Jazz mehr“. Die Musiker, die den „Liturgical Jazz“ ab den 1950er Jahren begründeten, teilten diese Ziel: himmelwärts gerichtete Klänge mit bodenständigen, irdischen zu verbinden.

Im Gefolge der sozialen und kulturellen Umbrüche nach Ende des zweiten Weltkrieges entwickelte sich ein Bewusstsein für Jazz als „Klassische Musik Amerikas“ und erreichte immer mehr auch ein begeistertes weißes Publikum über die Grenzen der USA hinaus. Diese neue Sensibilität für Jazz als eine gesellschaftlich und kulturell wichtige Musik beförderte auch die Idee, Jazz als Klangfarbe in die Kirche zu holen.

Der Gospelkomponist Thomas A. Dorsey, der als Kirchenmusiker in einer großen Baptistengemeinde in Chicago arbeitete, war der erste, der mit Solo-Sängerinnen statt mit Chören in Kirchen arbeitete. Er engagierte berühmte Blues- und Jazzsängerinnen wie Mahalia Jackson und Della Reese, die sonst in denselben Clubs wie Billie Holiday und Ella Fitzgerald sangen. Jazz kam in die Kirche. „George Lewis and his Ragtime Band“ nahm 1954 die erste Schallplatte mit Jazz-Arrangements von Hymnen auf: „Jazz at the Vespers“. In der lutherischen Saint Peter´s Church in Manhattan etablierte sich eine der ersten ständigen Spielstätten für Jazz als Kirchenmusik. Noch heute finden dort mehrmals in der Woche Jazzgottesdienste und Andachten mit prominenten New Yorker Musikern statt.

LITURGICAL JAZZ ALS INSPIRATION FÜR EINE NEUE KIRCHENMUSIK

Als Geburtsstunde des Genres „Liturgical Jazz“ gilt das 1959 entstandene Album des Tenorsaxophonisten Ed Summerlin. Seine im Jazz-Fachmagazin „Downbeat“ hoch gelobte Aufnahme „Liturgical Jazz“ bezieht sich auf die agendarische Form eines Morgengebets aus dem „Book of Common Prayer“ und enthält neben liturgisch geprägte Kompositionen Choralvariationen und musikalisch ausgestaltete Lesungen. 1965 feierte Duke Ellingtons erstes „Sacred Concert“ vor 2500 Besuchern in San Francisco Weltpremiere. Trotz heftigster Reaktionen aus kirchlichen Kreisen (inklusive Todesdrohungen gegen die beteiligten Pfarrer) gilt es heute unbestritten als erstes Konzert, das modernen Jazz als Kirchenmusik präsentierte. Ellington „Sacred Concert“ bildete für die nächsten Jahrzehnte den Archetyp und die Referenz für alle weiteren großformatigen Werke des kirchenmusikalischen Jazz.

Ellington weigerte sich, seine für Kirchen komponierte Musik als Jazz zu bezeichnen, er sah in dem neuen Genre eine Bestätigung, dass Jazz als geistliche Musik eine eigene Form von „klassischer amerikanischer Musik“ geworden war. Im selben Jahr hatte der Tenorsaxophonist John Coltrane „A Love Supreme“ veröffentlicht, die von seinem eigenen Erweckungserlebnis inspiriert war. "A Love Supreme" avancierte zu einem der meistverkauften Jazzalben aller Zeiten und war grundlegend für eine Bewegung im Jazz, die oft als Spiritual Jazz bezeichnet wurde, und damit den Bogen über die christliche Religion und Jazz als Kirchenmusik hinaus spannte. Am Ende der 1960er Jahre war Jazz international als musikalisches Genre von universaler Gültigkeit und Kraft akzeptiert. Liturgical Jazz und Spiritual Jazz entwickelten sich als eigene Spielarten in und außerhalb von Kirchen und brachten Liturgie in die Konzertsäle.

In Deutschland fand bereits 1956 die erste offizielle kirchliche Jazzveranstaltung in der Marktkirche in Halle statt, mit Dixieland-Jazzband, Spiritualchor und Podiums-gesprächen, ein Radiomitschnitt befindet sich im Schallarchiv in Leipzig. 1965 veröffentlichte der L. Schwann-Verlag unter dem Label SCHWANN / AMS die erste Deutsche Jazzmesse in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche des Rheinlandes. Der Verlag sollte eine neue Vision von Kirchenmusik dokumentieren, präsentieren und multiplizieren. Es entstanden u.a. die Produktion der Jazzmesse von Hermann Gehlen mit dem Orchester Kurt Edelhagen und renommierten Deutschen Jazzmusikern, zudem auch Klassikproduktionen mit Neuer Musik und renommierten Interpreten. In Norwegen gründete sich die Kirkelig Kulturversted (KKV), die seit vielen Jahrzehnten in ihrem umfangreichen Katalog an Produktionen dokumentieren, wie Jazz und Weltmusik klingt, die sich liturgisch versteht, oder musikalisch von christlicher Spiritualität geprägt ist.

Aus heutiger Perspektive lassen sich drei Strömungen im Jazz ausmachen in der diese Musik in all ihrer Ausdrucksweite Kirche begegnet:


Liturgischer Jazz - JAZZ IN KIRCHEN, LITURGISCH DIENEND
Sacred Jazz - JAZZ „AUS KIRCHEN“, LITURGISCH UND RITUELL INSPIRIERT
Spiritual Jazz - JAZZ DER VON SPIRITUELLER PRAXIS INSPIRIERT IST.


LITURGICAL JAZZ besteht in der Tradition der Kirchenmusik aus einer der Liturgie dienlichen Musik, wie Jazzarrangements von Chorälen, Hymnen und liturgischen Kompositionen (Jazzmessen, Jazzpassionen etc.). Inspiriert von liturgischen Erfahrungen der Künstler können (in Ausnahmefällen) auch Konzertprogramme aus Chorälen, Spirituals oder Hymnen entstehen, die "auf Augenhöhe" mit säkularen Jazz in Clubs und Konzertsälen erklingen.
SACRED JAZZ steht in der Tradition der Geistlichen Musik, also einer Konzertmusik, die religiös inspiriert ist und häufig außerhalb von Kirchräumen zu hören ist, lebt von den religiösen Erfahrungswelten der jeweiligen Künstler. Renommierte Musiker wie Brian Blade, Tord Gustavsen, Jon Cowherd, Ike Sturm, Deanna Witkowski und andere spielen ihre Musik in Jazzclubs und zugleich, gottesdienstlich dienend, in Kirchen. Ihre Musik ist aufgrund ihrer persönlichen Religiosität sowohl im Konzertsaal, Jazzclub als auch in der Liturgie zu Hause.
SPIRITUAL JAZZ: Ein eigenes Genre im Jazz seit 1965. Jazz als eine Form universalistischen Gotteslobes und auch der  Meditation dienlichen Musik. Oftmals kontemplativ, modal, mit frei improvisierten langen Formen, interreligiös, interkulturell und undogmatisch.

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